Friedrich Müller (Rechtswissenschaftler)


(* 22. Januar 1938 in Eggenfelden in Bayern) ist ein deutscher Rechtswissenschaftler aus Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in Verfassungsrecht, Methodologie und Verfassungstheorie, in  Rechtsphilosophie und Rechtstheorie sowie in der Rechtslinguistik. Auf diesen Gebieten hat er in einem schulbildenden Werk (als Gesamtkonzept seit 1984 „Strukturierende Rechtslehre“)  innovierende Vorschläge  ausgearbeitet. Diese werden vor allem im Ausland zunehmend als neues Paradigma der Rechts- und Rechtsnormtheorie diskutiert.  Außerdem hat er sich rechtspolitisch engagiert sowie unter dem Pseudonym Fedja Müller Gedichte und Prosa veröffentlicht.

 

Müller studierte Rechtswissenschaft in Erlangen-Nürnberg und an der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg im Breisgau. Er bestand die Erste und Zweite Juristische Staatsprüfung 1962 und 1967. In Freiburg i.Br. wurde er 1964 mit einer Schrift über die Problemgeschichte der Vereinigungsfreiheit im deutschen Vormärz zum Dr. iur. promoviert und 1968 als Assistent von Konrad Hesse mit seiner Arbeit über Normstruktur und Normativität habilitiert. Müller hält die Lehrbefugnis (Venia legendi) für Staatsrecht, Verwaltungsrecht, Kirchenrecht, Rechts- und Staatsphilosophie sowie für Rechtstheorie.

Nach der Tätigkeit als Privat- und Universitätsdozent in Freiburg i.Br. 1968 bis 1971 erhielt Müller 1971 als ordentlicher Professor einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechts- und Staatsphilosophie an der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg. Dort fungierte er von 1973 bis 1975 als Leiter der Fachgruppe Öffentliches Recht  und ab 1975 und 1979 als Dekan der Juristischen Fakultät. 1989 wurde er dort aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand versetzt. Zu seinen Schülern zählen Bodo Pieroth, Bernd Jeand’Heur, Ralph Christensen, Luís-Quintín Villacorta Mancebo, Rodrigo Meyer-Bornholdt, Li Jing, Fazil Saglam, Martonio Mont’Alverne Barreto Lima, Paulo de Menezes Albuquerque, Sérgio Valladão Ferraz, Pablo Castro Miozzo, Antonio Villacorta Cano-Vega.

 

In späteren Jahren wirkt Müller als  freier Forscher und wissenschaftlicher Publizist. Er nimmt internationale Lehr- und Forschungstätigkeit wahr, vor allem in Südafrika und Brasilien. Er war seit 1998 Gastprofessor am Department of Public Law an der University of Stellenbosch (Provinz West-Kap), seit 2000 Research Fellow ebenda, seit 2002 Gastprofessor im Pós-Graduação an der Universidade de Fortaleza (UNIFOR), Ceará-Brasilien, und von 2003 bis 2007 unter der Präsidentschaft von Luiz Inácio Lula da Silva freier Berater der Bundesregierung in Brasília. Als solcher erarbeitete er einen Entwurf zu einer umfassenden brasilianischen Justizreform, der durch Verfassungsänderung (Emenda Constitucional Nr. 45 vom 8.12. 2004) in Teilen verwirklicht wurde.

Müller arbeitet außerdem als Lyriker, Prosaautor und wissenschaftlicher wie literarischer Übersetzer. Er veröffentlicht Gedichte und Prosa seit Anfang der 1980er Jahre und war durch die 1990er Jahre Mitherausgeber der literarischen Zeitschrift „Van Goghs Ohr“.

Müller hat sich sozial und rechtspolitisch  engagiert, vor allem durch unentgeltliche Gutachtertätigkeit: z.B. für jüdische Familien im Rahmen der „Wiedergutmachung“, 1971 im Contergan-Skandal durch Erarbeiten der juristischen Basis für die Contergan-Stiftung, der Arbeitsgemeinschaft Freier Schulen für behinderte Kinder obergerichtlich beigestanden, durch den Entwurf eines Grundrechtsteils für die  Verfassung Brasiliens von 1988, durch Gutachten für die UNO zugunsten der landlosen brasilianischen Arbeiter  sowie eine Expertise für den Schutz der  verfassungsgemäßen Integrität indigener Territorien Brasiliens oder durch zwei Hauptreferate beim Ersten Weltsozialforum in Porto Alegre (2001) und die Mitarbeit am Internationalen Straftribunal über die Verbrechen an landlosen Arbeitern  (Curitiba, 2001).  Mehrfach beteiligte er sich am publizistischen Widerstand gegen den kalten Putsch in Brasilien 2016, die Amtsenthebung der Staatspräsidentin durch rechts- und verfassungswidrige Manöver. Dieser Putsch wurde rücksichtslos zu Ende gebracht; die seitherige Entwicklung Brasiliens gibt zu düsteren Befürchtungen Anlass.

Das Depositum mit einem Teil der wissenschaftlichen Schriften, mit veröffentlichten Texten und Typoskripten des vollständigen literarischen Werks, Fotos und (Bild-)Dokumenten sowie den  künstlerischen Arbeiten (Ölbilder, Tuschzeichnungen, Collagen) befindet sich im Universitätsarchiv Heidelberg.

 

Rezeption, Kritik, Wirkung

Der deutschsprachige Mainstream sperrt sich seit Mitte der 1960er Jahre gegen die Vorschläge der Strukturierenden Rechtslehre, Methodik und Verfassungstheorie. Das geschieht vor allem durch Nichtbefassen und Ausgrenzen[1]. Eine argumentierte Kritik hat das von Müller vorgeschlagene nachpositivistische Paradigma noch nicht gefunden. Es bleibt nach wie vor bei  Einwänden in Randfragen[2]. Diese bestehen zum einen in dem Vorwurf, die neuen Gedanken seien noch zu wenig konkret[3] – das ist durch die Bände der „Juristischen Methodik“ und die sonstigen methodologischen Schriften seit langem überholt. Zum zweiten wird, angesichts der eingeführten Neologismen,  eine „Abscheidung von der allgemeinen juristischen Umgangssprache“, werden „Immunisierung“ und ein „Kommunikationsdefizit“ kritisiert[4]. Auch dieser Einwand hat sich als hinfällig erwiesen – die bemängelten Begriffsbildungen (wie „Normstruktur“, „Normtext“, „Normprogramm“, „Normbereich“, „Konkretisierung“, „Rechtsnorm/Entscheidungsnorm“, „Rechtsarbeit“) sind nach und nach zum Teil schon Gemeingut geworden, wurden häufig in der ausländischen Diskussion übernommen und sowohl vom deutschen Bundesverfassungsgericht als auch vom Spanischen Verfassungsgericht aufgegriffen. Erneuernde Gedanken werden am besten durch neue Begriffe ausgedrückt, sofern sie, wie hier, bei ihrer Einführung sorgfältig erläutert worden sind. Vereinzelt wurde das schon zu Beginn der 1980er Jahre anerkannt[5].

Verglichen mit den Berührungsängsten der akademischen Diskussion, reagierte die Praxis gegenüber den nachpositivistischen Konzepten seit jeher aufgeschlossener – ein gewisser  Einfluss ist in der Judikatur der Landesverfassungsgerichte, des Bundesverwaltungs- und des Bundesverfassungsgerichts nachweisbar (Entscheidungen im „Mephisto“-Fall, zu den Landesmediengesetzen, zur Christlichen Gemeinschaftsschule, zur Stellung des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen, zum Rechtsstatus der Bahá’i in Deutschland, zur Finanzierung privater Ersatzschulen, und andere). Der Bundesgesetzgeber reformierte die Regeln über den Quellenschutz für journalistische Arbeit in der Richtung von Müllers Vorschlägen hierzu[6].

So ist die  Wirkung dieser Konzepte in der deutschsprachigen Wissenschaft seit den 1960er Jahren als eine überwiegend diffuse  spürbar, während die Judikatur der Obersten Gerichtshöfe und besonders die des Bundesverfassungsgerichts sich gelegentlich der Sache nach, zum Teil auch schon terminologisch („Normtext“, „Normbereich“)[7]  ihrer bedient.

Im Ausland ist das Echo seit jeher stärker: Publikation in über einem Dutzend Sprachen, eine umfangreiche Sekundärliteratur, zwei Bände en hommage[8] und ein explizites Interesse für das Neue am Strukturkonzept: „Der Jurist der zweiten Jahrhunderthälfte“ (O Estado de São Paulo, 1986), „M. zählt ohne Zweifel zu den Rechtstheoretikern der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts“ (DROITS. Revue Française de Théorie Juridique, Paris 1992), „Einer der bedeutendsten Juristen dieses Jahrhunderts“ (Revista da Faculdade de Direito da Universidade de Lisboa, 1992),  „Ein neuer Jura-Klassiker“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2002).

Müller ist Mitbegründer der Disziplin der Rechtslinguistik sowie der seit Mitte der 1980er Jahre arbeitenden „Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik“. Er konzipierte zwei neue fundamentale Rechte (Menschenrecht auf Demokratie, Grundrecht auf Methodengleichheit) und ist unter anderem Mitherausgeber der wissenschaftlichen Zeitschrift des brasilianischen Staatspräsidenten. Inspiriert durch sein Buch „Quem é o Povo?“ („Wer ist das Volk?“, São Paulo 1998), wurde 1998 in São Paulo ein gleichnamiger Dokumentarfilm gedreht; seitdem in Brasilien auch mehrere Videofilme zur Einführung in das Verständnis der „Strukturierenden Rechtslehre“.  Müller ist Mitglied der Brasilianischen Akademie für Verfassungsrecht.

 

 

Einzelnachweise

[1] W. Leisner, Deutsches Verwaltungsblatt 2009, S. 235 und f.: “Müller ist ein freier Denker; seine häufig unkonventionellen Gedanken sind immer wieder lesenswert, geben Anstöße, mag ihn auch ‚die Zunft‘ weithin ignorieren“.

 

[2] Dazu: „Die Wissenschaft: ein langer ruhiger Fluss? – Zum Streit um die Strukturierende Rechtslehre, in: F.M., Syntagma (2012), S. 413 ff. – Ebendort S. 379 ff.: „Aus den Anfängen der Strukturierenden Rechtslehre“.

[3] So E. Denninger, in: Archiv des öffentlichen Rechts 94 (1969), S. 352 ff.; E. Schneider, in: Monatsschrift für Deutsches Recht 21 (1967), S. 531; R. Walter, in: Juristische Blätter 101 (1979), S. 390; M. Kriele, Recht und praktische Vernunft, 1979, S. 94 ff. – Dazu F.M., Juristische Methodik  I, 11. Aufl. 2013, S. 569 ff.

[4] Bei E.-W. Böckenförde, in: Neue Juristische Wochenschrift 1976, S. 289 ff., 2096; siehe auch B. Rüthers, in: Archiv des öffentlichen Rechts 113 (1988), S. 268 ff., 282 („selbstgewählte terminologische Absonderung“). – Dazu F.M., Syntagma (2012), z.B. S. 417

[5] So bei V. Neumann, in: Kritische Justiz 13 (1980), S. 337 ff., 342, 344 („Angemessenheit von Sprache und zu behandelndem Problem“); H. Vorländer, Verfassung und Konsens, 1981, der auf S. 325 „von dieser spezifischen, eigenwilligen aber exakten Begriffssprache (Normtext, Normprogramm, Normbereich, Normstruktur, Normativität)“ redet; auch F.Rottmann, Der Beamte als Staatsbürger, 1981, S. 46 ff.

[6] In dem Buch „Strafverfolgung und Rundfunkfreiheit“, 1973.

[7] Nachweise in Juristische Methodik  I, 11. Aufl. 2013, z.B. S. 61 ff., 254 f.; „ámbito normativo“ in der Praxis des Spanischen Verfassungsgerichts, siehe z.B. ebendort, S. 255.

[8]Als groß angelegte Festschrift: Democracia, Direito e Política. Estudos Internacionais em Homenagem a Friedrich Müller, organizado por Martonio Mont’Alverne Barreto Lima/Paulo Antonio de Menezes Albuquerque, Florianópolis 2006; sowie als individuelle Ehrung: Luís-Quintin Villacorta Mancebo, Postpositivismo. Para el professor Friedrich Müller, con motivo del septuagésimo aniversario de su nacimiento,  Santander 2008. – In Deutschland: Rechtstheorie in rechtspraktischer Absicht. Freundesgabe zum 70. Geburtstag von Friedrich Müller, herausgegeben von Ralph Christensen und Bodo Pieroth, Berlin 2008.

 

 

 

 

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